Nie dagewesen
Es war ein stiller Moment gewesen. Bis dahin. Er saß wie so oft im Bett auf der Suche nach Gedanken, die er einfangen und festhalten konnte. Es schien schier auswegslos. Draußen fielen seit Tagen Regentropfen mit dumpfem, beruhigendem Plopp auf das Vordach und gegen die Fenster, frische Herbstluft drang in das Zimmer.
Sie sah ihn an. Er saß vor ihr, angelehnt, die Beine angezogen, hinter ihm seine Vergangenheit, scheinbar völlig zusammenhanglos an die Wand genagelt, gesteckt, Photos, kleine Briefchen, sogar die Pinnummer einer Bankkarte, darauf handschriftlich in roten Buchstaben "happy". Wie lange mochte das her sein?
"Ich lebe im Jetzt, ich plane nicht." Diese Worte, seine Worte, waberten in ihren Hirnwindungen umher, sie fühlten sich mitunter gut, manchmal sogar wahr an, aber in solchen Momenten wie jetzt schlugen sie von innen gegen ihre Schädeldecke und verursachten diesen sturen Kopfschmerz, den sie dann oft tagelang nicht loswurde. Ein leises Schnauben schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Er rieb sich die Schläfen, zog sich die Kapuze des Pullovers über den Kopf und faltete die Hände vor seiner Nase und seinem Gesicht, schloss seine Augen um sie gleich darauf wieder zu öffnen und blickte sie an. Leere. Nichts als Leere, dachte sie still.
"Ist alles gut?"
"Nichts ist gut."
"Was ist denn? Bist Du traurig?"
Er nickte, hielt kurz inne. "Ich kann nicht schreiben. Eine Blockade. Schon seit Ewigkeiten."
Sie spürte, wie ihr Dauer-gute-Laune-Ich sich wieder an die Oberfläche zu boxen versuchte. Sie hasste das. Wann hatte das angefangen? Sie war lustig. Sie wollte gefallen. Sie wollte sich leicht geben, selbst wenn es in ihr zerriss und ihre finstersten Gedanken Ping Pong mit ihren tiefsten Ängsten spielten.
"Hm. Ich wäre gern Deine Muse. Was soll ich tun?"
Sie war in seine Nähe gerutscht und griff nach seiner Hand, die er sofort entzog.
"Du willst meine Muse sein?" Bei der Art und Weise, wie er diese Worte aussprach, wurde ihr kalt. Durch enge Augen sah er sie an. Und wartete.
"Ja, möchte ich. Andere Künstler hatten auch ihre Musen." Sie versuchte zu lachen, aber es blieb ihr in der Kehle stecken und ließ ihr kaum Luft zum Atmen.
"Überleg dir das gut. Musen werden benutzt und danach einfach weg geworfen. Als wären sie nie dagewesen." Er wendete seinen Blick ab und verschwand wieder in seinem Schweigen.
Es war ruhig, es wurde dunkel, ihr war kalt, zwischendurch kam die Katze, die sie von der Heizung aus schon länger beobachtet hatte, legte sich auf ihre mit Gänsehaut bedeckten Unterarme, als wollte sie sie wärmen. Hey Prinzessin, dachte sie, würdest Du jemanden wegwerfen, von dem Du behauptest, ihn zu lieben?
Nie dagewesen. Diese Worte geisterten noch den verbleibenden Abend und die Nacht über in ihrem Kopf umher. Sie schlief allein ein, sie wachte allein auf. Er immer neben ihr. Und doch. Nicht anwesend. Im Leuchten des neuen Tages und im Klopfen der Regentropfen sah sie ihn an, beobachtete seine ruhigen Atemzüge, seine schön geformten Lippen, versuchte, noch einmal nachzufühlen, wie es war, als er sie zuletzt geküsst hatte, freiwillig. Ohne dass sich ihre Lippen zuvor gespitzt hatten. Ohne, dass sie darum bat.
Wie bemitleidenswert, dachte sie, wie ärmlich ich mich benehme. Sie stand auf, ging leise nach unten, gab der Prinzessin ihr Frühstück und saß in dem gelben Licht der zerbrochen dreckigen Glasscheibe auf der Holztreppe.
Immer so, dass Du Dich selbst im Spiegel noch ansehen kannst, hörte sie ihren Vater leise hallen.
Ich weiß doch, antwortete sie ihm, aber ehrlich, das mit dem Spiegel ist schon seit Tagen vorbei. Ich sehe mich nicht nur nicht mehr an, ich sehe mich gar nicht mehr.
Das steht Dir überhaupt nicht, sagte ihr Vater traurig, es steht Dir nicht und es passt nicht. Nicht zu Dir, nicht in Dein Leben.
Ach Papa, antwortete sie, ein wenig zu laut, denn die Prinzessin sah verwirrt zu ihr auf.
Sie ging auf Zehenspitzen wieder hoch, stellte sich vors Bett, sah ihn an, wie er schlafend und zufrieden mit halb geöffnetem Mund auf dem Rücken lag. Die Ruhe selbst, dachte sie, meine Ruhe selbst.
Es war ein stiller Moment gewesen. Bis dahin. Als ihr Auto aus der Auffahrt rollte sah sie die Prinzessin vor der Haustür sitzen, ein Specht hämmerte am Nachbarsbaum seinen Takt, in ihren Gedanken der von ihr hinterlassene Zettel, der auf der Holztreppe zwischen all den Rechnungen, alten Zeitungen, Briefen und Cd-Hüllen lag und darauf wartete, gefunden zu werden. Wie groß war die Chance, dass er diesen Brief finden würde, in all dem Chaos?
Gering, dachte sie noch, sehr gering.
Wie gut, dass es hier nur um Deine Chance geht, triumphierte ihr Vater.
Und bei diesen Worten machte sie sich groß und sah ihre leuchtenden Augen im Rückspiegel.
Sie sah ihn an. Er saß vor ihr, angelehnt, die Beine angezogen, hinter ihm seine Vergangenheit, scheinbar völlig zusammenhanglos an die Wand genagelt, gesteckt, Photos, kleine Briefchen, sogar die Pinnummer einer Bankkarte, darauf handschriftlich in roten Buchstaben "happy". Wie lange mochte das her sein?
"Ich lebe im Jetzt, ich plane nicht." Diese Worte, seine Worte, waberten in ihren Hirnwindungen umher, sie fühlten sich mitunter gut, manchmal sogar wahr an, aber in solchen Momenten wie jetzt schlugen sie von innen gegen ihre Schädeldecke und verursachten diesen sturen Kopfschmerz, den sie dann oft tagelang nicht loswurde. Ein leises Schnauben schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Er rieb sich die Schläfen, zog sich die Kapuze des Pullovers über den Kopf und faltete die Hände vor seiner Nase und seinem Gesicht, schloss seine Augen um sie gleich darauf wieder zu öffnen und blickte sie an. Leere. Nichts als Leere, dachte sie still.
"Ist alles gut?"
"Nichts ist gut."
"Was ist denn? Bist Du traurig?"
Er nickte, hielt kurz inne. "Ich kann nicht schreiben. Eine Blockade. Schon seit Ewigkeiten."
Sie spürte, wie ihr Dauer-gute-Laune-Ich sich wieder an die Oberfläche zu boxen versuchte. Sie hasste das. Wann hatte das angefangen? Sie war lustig. Sie wollte gefallen. Sie wollte sich leicht geben, selbst wenn es in ihr zerriss und ihre finstersten Gedanken Ping Pong mit ihren tiefsten Ängsten spielten.
"Hm. Ich wäre gern Deine Muse. Was soll ich tun?"
Sie war in seine Nähe gerutscht und griff nach seiner Hand, die er sofort entzog.
"Du willst meine Muse sein?" Bei der Art und Weise, wie er diese Worte aussprach, wurde ihr kalt. Durch enge Augen sah er sie an. Und wartete.
"Ja, möchte ich. Andere Künstler hatten auch ihre Musen." Sie versuchte zu lachen, aber es blieb ihr in der Kehle stecken und ließ ihr kaum Luft zum Atmen.
"Überleg dir das gut. Musen werden benutzt und danach einfach weg geworfen. Als wären sie nie dagewesen." Er wendete seinen Blick ab und verschwand wieder in seinem Schweigen.
Es war ruhig, es wurde dunkel, ihr war kalt, zwischendurch kam die Katze, die sie von der Heizung aus schon länger beobachtet hatte, legte sich auf ihre mit Gänsehaut bedeckten Unterarme, als wollte sie sie wärmen. Hey Prinzessin, dachte sie, würdest Du jemanden wegwerfen, von dem Du behauptest, ihn zu lieben?
Nie dagewesen. Diese Worte geisterten noch den verbleibenden Abend und die Nacht über in ihrem Kopf umher. Sie schlief allein ein, sie wachte allein auf. Er immer neben ihr. Und doch. Nicht anwesend. Im Leuchten des neuen Tages und im Klopfen der Regentropfen sah sie ihn an, beobachtete seine ruhigen Atemzüge, seine schön geformten Lippen, versuchte, noch einmal nachzufühlen, wie es war, als er sie zuletzt geküsst hatte, freiwillig. Ohne dass sich ihre Lippen zuvor gespitzt hatten. Ohne, dass sie darum bat.
Wie bemitleidenswert, dachte sie, wie ärmlich ich mich benehme. Sie stand auf, ging leise nach unten, gab der Prinzessin ihr Frühstück und saß in dem gelben Licht der zerbrochen dreckigen Glasscheibe auf der Holztreppe.
Immer so, dass Du Dich selbst im Spiegel noch ansehen kannst, hörte sie ihren Vater leise hallen.
Ich weiß doch, antwortete sie ihm, aber ehrlich, das mit dem Spiegel ist schon seit Tagen vorbei. Ich sehe mich nicht nur nicht mehr an, ich sehe mich gar nicht mehr.
Das steht Dir überhaupt nicht, sagte ihr Vater traurig, es steht Dir nicht und es passt nicht. Nicht zu Dir, nicht in Dein Leben.
Ach Papa, antwortete sie, ein wenig zu laut, denn die Prinzessin sah verwirrt zu ihr auf.
Sie ging auf Zehenspitzen wieder hoch, stellte sich vors Bett, sah ihn an, wie er schlafend und zufrieden mit halb geöffnetem Mund auf dem Rücken lag. Die Ruhe selbst, dachte sie, meine Ruhe selbst.
Es war ein stiller Moment gewesen. Bis dahin. Als ihr Auto aus der Auffahrt rollte sah sie die Prinzessin vor der Haustür sitzen, ein Specht hämmerte am Nachbarsbaum seinen Takt, in ihren Gedanken der von ihr hinterlassene Zettel, der auf der Holztreppe zwischen all den Rechnungen, alten Zeitungen, Briefen und Cd-Hüllen lag und darauf wartete, gefunden zu werden. Wie groß war die Chance, dass er diesen Brief finden würde, in all dem Chaos?
Gering, dachte sie noch, sehr gering.
Wie gut, dass es hier nur um Deine Chance geht, triumphierte ihr Vater.
Und bei diesen Worten machte sie sich groß und sah ihre leuchtenden Augen im Rückspiegel.
lahoiha - Mi, 6. Dez, 14:39
870 mal durch die Augen ins...
Trackback URL:
https://lahoiha.twoday.net/stories/3031476/modTrackback