Ein letztes Winken
Es war wieder einer dieser Tage, an denen schon morgens beim Augenaufschlag zu merken ist, dass irgendetwas nicht stimmt. Oder sogar, dass nichts stimmt. Einer dieser Tage, an dem nichts gut läuft, laufen wird.
Ich war Perfektionistin darin.
Ich schlug die Augen auf, nachdem ein nicht enden wollender Traum mich gerädert hatte. Ein Traum von Kermit dem Frosch und einer großen, in der Dunkelheit stehenden, ohrenbetäubenden Lärm erzeugenden Maschine, die einzig und allein dazu da war, Menschen langsam und blutig zu zerquetschen. Kermit, dieser Verräter. Vor der Maschine stehend, mit seiner piepsenden Quäkstimme, nur ein Satz: „Aber Moment, ich habe hier noch einen.“ Er tauchte in meiner Traumlandschaft auf, seitdem ich mich erinnern kann. Früher nur, wenn mich mal wieder kindliches Fieber bis hin zur Halluzination gequält hatte. Immer wiederkehrend: diese Maschine, mein entsetzter Blick darauf, Schreien, matschig-schweres Brechen von Knochen und ein ganz furchtbar bleiernd, schmerzendes Drücken, als hätte mir jemand meinen Kopf in den Schraubstock geklemmt und würde nun genüsslich langsam den Hebel anziehen. Auch jetzt wieder, hier in diesem Moment, ist dieses Gefühl so wirklich, dass ich innehalten muss und ein paar Mal den Kopf schüttele.
Kermit also. Ja. Früher nur bei Fieber sein sadistisches Spiel spielend, tauchte er nun nur noch auf, kurz bevor mich ein schlechter Tag erwischen sollte.
Ich lag im Bett, versuchte, das Drücken hinter den Schläfen loszuwerden und mich ein bisschen zu ordnen. Blickte in den hellen Hinterhof auf die nackten Zweige der sonst so grünen Bäume. Ach ja, auch das noch. Winter. Der Winter war nicht mein Freund, der Traum hatte mir zugesetzt und zu allem Übel fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, neuen Espresso zu kaufen. Na toll.
Ich stand also auf, streckte mich und beschloss, erst einmal duschen zu gehen. Es war schon spät, in etwa 18 Uhr. Ich steckte mitten in einem Nachtwachenturn, die vorangegangenen Nächte auf der Intensivstation waren ruhig verlaufen. Das einzig wirklich Nervende, immer wieder Nervende daran war, dass ich mit einer mir ungemochten Kollegin arbeitete. Sie redete viel zu viel und meistens derart hohles Zeug in sächsischen Akzent, dass es mir Stiche im Kopf versetzte. Na gut, eine Nacht noch, dann würde ich erlöst sein. Eine Nacht noch einen Hindernislauf durch sächsische Dummdörfer absolvieren, nicht mehr.
Die Dusche weckte meine Geister. Ich verharrte ungewohnt lange unter dem warmen, weichen Strahl und lockte Leben in jede fasrige Ecke meines Körpers. Scheiß auf Kermit. Dieser Tag würde mich genauso schnell wieder loslassen, wie er mich erwischt hatte.
Gegen 19:30 Uhr stieg ich fast gutgelaunt ins Auto und hatte bis auf einen kleinen, kaum merkbaren Druck im Kopf, nahezu keine Erinnerung mehr an meinen gehassten Frosch und seine vermeintliche Symbolik.
Und nur 15 Minuten später bog ich auf den Wirtschaftshof des Krankenhauses ein, lenkte mein nachtblaues Auto in eine sehr nahe Parklücke, freute mich darüber, meiner Faulheit diesbezüglich einen Gefallen getan zu haben und stieg, mit Lars am Handy redend, aus dem Auto.
Und es dauerte eine Weile, bis meinem Kopf einging, was meine Augen sahen. Erst nur im Augenwinkel Bewegungen wahrnehmend blickte ich schließlich ganz hin. Das Auto, den Porsche, der dort an der Laderampe stand, die Beifahrertür weit geöffnet, erkannte ich sofort. Es war der Wagen der Frau unseres Oberarztes. Ein Internist. Ein Mensch. Ich sage das deswegen so ausdrücklich, weil es leider traurige Tatsache ist, dass es viel zu wenig, ethisch und moralisch feine Menschen gibt, sowohl im Arztberuf als auch im wahren Leben.
Und daneben... gleich ein paar Meter weiter, so nah, dass mir in der Nachsicht klar war, dass er diesen Weg nicht gegangen sondern gezogen worden war,
ein lebloser Körper, an dem bereits eine Heerschar medizinischen Personals mit der Reanimation beschäftigt war.
„Oh nein. Bitte nicht“ schoss es mir durch die Gedanken. Ein froschgrünes Blitzen vor meinem geistigen Auge, ein unerträglicher Druck hinter den Schläfen. „Oh nein, bitte nicht, bitte lass es seine Frau sein.“
Ich weiß natürlich, dass das ein verwerflicher Gedanke war. Ich weiß auch, dass man das niemandem wünschen soll. Sollte. Eigentlich. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, möchte ich sagen, dass seine Frau schon seit langen Jahren sehr schwer krank war. Ein Schatten ihres Selbst. Abgemergelt und schleppend atmend. Labbrige Haut an ihrem Körper, langsame, schwerfällige Bewegungen. Dieser Gedanke lag also nah, und vor dem Hintergrund meiner Zuneigung zu diesem Oberarzt so nah, dass ich kaum atmen konnte.
Doch, ich glaube, ich bin hingerannt. Genau weiß ich nicht mehr, ob meine Atemlosigkeit vom Laufen oder der Angst kam, die mir jeden Schritt so tonnenschwer erscheinen ließ.
Dort stand ich nun. Ich brauchte nur zwei Blicke in sein Gesicht. Beim ersten musste ich mich vergewissern, dass tatsächlich er es war, der dort unten, bewegt von den ihn umgebenden Menschen, lag. Wie fremd einem doch ein vertrautes Gesicht erscheint, sobald die gewohnte Mimik gewichen ist. Doch. Es war nicht seine Frau, es war er.
Der zweite Blick bestätigte mir das, was mir so unbegreiflich erschien, nämlich, dass dieser Mensch tot war. Und bleiben würde. Alle Spannung, die das Leben hervorruft, in Körper und Geist, war verschwunden. Meine Augen glitten über seinen Körper, fast musste ich lächeln, denn er hatte wie immer farbig passende Socken zu seinem Hemd an, die Haare lagen geordnet am Kopf. Nur seine Augen. Seine Augen verdeutlichten mir, worum es hier wirklich ging. Sie waren ganz geöffnet, blickten starr ins Nichts, ich meine, nicht durch irgendetwas hindurch, nicht starr auf irgendetwas, sie blickten einfach ins Nichts. Ich stand dort, konnte nicht glauben, wollte nicht glauben, was dort geschah, und bis heute frage ich mich, welche Augenfarbe er eigentlich hatte und wie es verdammt noch mal sein konnte, dass ich so oft hineingeschaut hatte, ohne mich an die Farbe seiner Augen erinnern zu können. Blau? Grün? Nun hatten sie gar keine Farbe mehr, keinen Glanz, sie waren milchig-stumpf wie die Augen eines sehr altersschwachen Hundes.
Vielleicht ertrug ich es nicht. Vielleicht wollte ich aber auch einfach alles vorbereiten, vorbereiten für ihn, für seinen vermeintlichen Weg zurück ins Leben, den ich mir so sehr wünschte, der mir unverzichtbar erschien. Für ihn. Für mich.
Ich rannte auf die Station. Ich schrie, doch, ich schrie. Völlig außer Atem schrie ich dennoch. Wortfetzen: „Schlaui. Tot. Reanimation. Hilfe. Beatmungsgerät. Schnell. Bitte schnell.“
Wir versuchten, schnell zu handeln. Es war für mich überwältigend zu sehen, wie gefasst und ruhig alle arbeiteten. Alles lief wie immer, obwohl jedem klar war, dass das hier nicht annähernd wie immer war. Wir arbeiteten und wir kämpften. Wir wechselten uns gefasst fassungslos ab. Alle wollten ihr Bestes geben, gaben ihr Bestes. Der Schweiß lief mir den Rücken herunter, in die Unterwäsche, bis in die Socken. Die Luft erschien mir stickig, zu stickig, als dass ich gut hätte atmen können. Ich stand auf einem Stuhl vor dem Bett, in dem er lag, über ihn gebeugt. Drücken und hoffen. Und hoffen. Drücken. Und zwischendurch seine Stimme in meinem Ohr, so als würde er nicht unter meinen Händen liegen sondern direkt neben mir stehen: „Mädchen, was machste denn da? Das bringt doch nichts mehr. Wir hören auf.“ Ich musste an die Situationen mit ihm denken, in denen er in der Lage war, das Sterben eines Patienten als gegeben hinzunehmen. Es anzunehmen. Und diesen Menschen gehen zu lassen. Gehen lassen zu können.
Ich sah ihn an und dachte daran, dass einem solchen Menschen, ihm, ein ebensolches Sterben zustehen sollte. Das EKG zeigte weder Reaktion auf die vielen Medikamente, noch auf die Herzdruckmassage. Nichts. Plötzliche Albtraumbilder stiegen in mir auf. Wir holen ihn doch zurück. Sein Herz schlägt wieder. Er wird aber nie wieder wach. Hypoxischer Hirnschaden. Die letzten Monate, Jahre seines Lebens, zu einem Pflegefall verdammt. Und all diese Gedanken wieder in froschgrünes Licht getaucht.
Hilfe suchend blickte ich den diensthabenden Oberarzt an, den ich noch nie hatte leiden können. Uns verband eine Abneigung, wie sie tiefer nicht hätte sein können. Doch hier und jetzt wollte ich mich vor ihn stellen, ihn anflehen, wenn es sein musste. Bitte. Aufhören.
Nach einer Stunde geschah genau das. Wir hörten auf. Ein kurzer, stiller, atemloser Moment, dann Weinen. Ich schloss die Augen. Meine Schultern, mein ganzer Körper schmerzte. Ich atmete im Schutz meiner gesenkten Lider ein, wieder aus und sah mich um.
Jeder weinte. Kein Wort von irgendwem. Geballte Trauer die Nacht hindurch. Letzte Wünsche, letzte Berührungen, Tränen. Für einen Menschen, dessen Weggang bis heute eine Lücke hinterlässt. Für einen Menschen, bei dem ein jeder lächeln muss, wenn die Erinnerung an ihn die Gegenwart trifft.
Die restliche Zeit dieser Nacht schleppte sich mühsam durch die Gänge. Meine ganze Energie blieb mit jedem Schritt, den ich tat, am Boden kleben. Mir war alles egal. Der mir verhasste Oberarzt, die dummdreiste Kollegin, niemand berührte mich noch. Später, als alles still war, die Beatmungsgeräte surrten monoton über die Station, ging ich noch einmal in sein Zimmer.
Ich schloss die Tür, holte mir einen Stuhl, setzte mich neben sein Bett, berührte seine Hand. Ich werde nie verstehen, wie es sein kann, dass ein Körper so lang noch nach dem Weichen des Lebens warm sein kann.
Ich sah ihn mir an, er wirkte jung, viel zu jung. Eigentlich hatte ich ein angestrengtes, von der Tortour gemartertes Gesicht erwartet, aber alles war friedlich. Er war friedlich. Und beim genaueren Hinsehen erkannte ich ein zufrieden-glückliches Lächeln.
Noch heute beim Aufschreiben, fast zwei Jahre später, begleiten mich Tränen bei jedem Wort. Noch heute erwarte ich, wenn ich durch das Krankenhaus laufe, in jedem Flur seinen gemächlich schlurfenden Gang.
Noch heute fehlt er.
So soll das sein. So soll das bleiben.
Kermit bin ich seit dieser Nacht ein für alle Mal los.
Ich saß dort neben dem Bett und habe, nachdem ich ein paar Herzens- und Abschiedsworte gesprochen hatte, eine Ansage an das grüne Monster in meinem Kopf gemacht.
Vielleicht war es der richtige Zeitpunkt, vielleicht der richtige Ort, vielleicht aber auch die Entschlossenheit in meiner Stimme, gestärkt durch die vergangenen Stunden.
In der Stille des Augenblicks hatte ich, heimlich, meine Angst vor dem Sterben, die Angst vor dem Tod, verloren. Trotz aller Schwere, die diese Stunden mit sich brachten, ich fühlte mich leichter denn je.
Keine Angst mehr. Erst recht nicht vor grünen Stoffpuppen, die stets von rosa Schweinen durch die Luft gepfeffert werden. Und ich pfefferte ihn hinaus. Hinaus aus dem Raum, hinaus aus meinen Träumen, aus mir. Soll sich auch weiterhin Miss Piggy mit ihm abgeben.
Und wieder: „Abschied, ach ja!“
Ich war Perfektionistin darin.
Ich schlug die Augen auf, nachdem ein nicht enden wollender Traum mich gerädert hatte. Ein Traum von Kermit dem Frosch und einer großen, in der Dunkelheit stehenden, ohrenbetäubenden Lärm erzeugenden Maschine, die einzig und allein dazu da war, Menschen langsam und blutig zu zerquetschen. Kermit, dieser Verräter. Vor der Maschine stehend, mit seiner piepsenden Quäkstimme, nur ein Satz: „Aber Moment, ich habe hier noch einen.“ Er tauchte in meiner Traumlandschaft auf, seitdem ich mich erinnern kann. Früher nur, wenn mich mal wieder kindliches Fieber bis hin zur Halluzination gequält hatte. Immer wiederkehrend: diese Maschine, mein entsetzter Blick darauf, Schreien, matschig-schweres Brechen von Knochen und ein ganz furchtbar bleiernd, schmerzendes Drücken, als hätte mir jemand meinen Kopf in den Schraubstock geklemmt und würde nun genüsslich langsam den Hebel anziehen. Auch jetzt wieder, hier in diesem Moment, ist dieses Gefühl so wirklich, dass ich innehalten muss und ein paar Mal den Kopf schüttele.
Kermit also. Ja. Früher nur bei Fieber sein sadistisches Spiel spielend, tauchte er nun nur noch auf, kurz bevor mich ein schlechter Tag erwischen sollte.
Ich lag im Bett, versuchte, das Drücken hinter den Schläfen loszuwerden und mich ein bisschen zu ordnen. Blickte in den hellen Hinterhof auf die nackten Zweige der sonst so grünen Bäume. Ach ja, auch das noch. Winter. Der Winter war nicht mein Freund, der Traum hatte mir zugesetzt und zu allem Übel fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, neuen Espresso zu kaufen. Na toll.
Ich stand also auf, streckte mich und beschloss, erst einmal duschen zu gehen. Es war schon spät, in etwa 18 Uhr. Ich steckte mitten in einem Nachtwachenturn, die vorangegangenen Nächte auf der Intensivstation waren ruhig verlaufen. Das einzig wirklich Nervende, immer wieder Nervende daran war, dass ich mit einer mir ungemochten Kollegin arbeitete. Sie redete viel zu viel und meistens derart hohles Zeug in sächsischen Akzent, dass es mir Stiche im Kopf versetzte. Na gut, eine Nacht noch, dann würde ich erlöst sein. Eine Nacht noch einen Hindernislauf durch sächsische Dummdörfer absolvieren, nicht mehr.
Die Dusche weckte meine Geister. Ich verharrte ungewohnt lange unter dem warmen, weichen Strahl und lockte Leben in jede fasrige Ecke meines Körpers. Scheiß auf Kermit. Dieser Tag würde mich genauso schnell wieder loslassen, wie er mich erwischt hatte.
Gegen 19:30 Uhr stieg ich fast gutgelaunt ins Auto und hatte bis auf einen kleinen, kaum merkbaren Druck im Kopf, nahezu keine Erinnerung mehr an meinen gehassten Frosch und seine vermeintliche Symbolik.
Und nur 15 Minuten später bog ich auf den Wirtschaftshof des Krankenhauses ein, lenkte mein nachtblaues Auto in eine sehr nahe Parklücke, freute mich darüber, meiner Faulheit diesbezüglich einen Gefallen getan zu haben und stieg, mit Lars am Handy redend, aus dem Auto.
Und es dauerte eine Weile, bis meinem Kopf einging, was meine Augen sahen. Erst nur im Augenwinkel Bewegungen wahrnehmend blickte ich schließlich ganz hin. Das Auto, den Porsche, der dort an der Laderampe stand, die Beifahrertür weit geöffnet, erkannte ich sofort. Es war der Wagen der Frau unseres Oberarztes. Ein Internist. Ein Mensch. Ich sage das deswegen so ausdrücklich, weil es leider traurige Tatsache ist, dass es viel zu wenig, ethisch und moralisch feine Menschen gibt, sowohl im Arztberuf als auch im wahren Leben.
Und daneben... gleich ein paar Meter weiter, so nah, dass mir in der Nachsicht klar war, dass er diesen Weg nicht gegangen sondern gezogen worden war,
ein lebloser Körper, an dem bereits eine Heerschar medizinischen Personals mit der Reanimation beschäftigt war.
„Oh nein. Bitte nicht“ schoss es mir durch die Gedanken. Ein froschgrünes Blitzen vor meinem geistigen Auge, ein unerträglicher Druck hinter den Schläfen. „Oh nein, bitte nicht, bitte lass es seine Frau sein.“
Ich weiß natürlich, dass das ein verwerflicher Gedanke war. Ich weiß auch, dass man das niemandem wünschen soll. Sollte. Eigentlich. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, möchte ich sagen, dass seine Frau schon seit langen Jahren sehr schwer krank war. Ein Schatten ihres Selbst. Abgemergelt und schleppend atmend. Labbrige Haut an ihrem Körper, langsame, schwerfällige Bewegungen. Dieser Gedanke lag also nah, und vor dem Hintergrund meiner Zuneigung zu diesem Oberarzt so nah, dass ich kaum atmen konnte.
Doch, ich glaube, ich bin hingerannt. Genau weiß ich nicht mehr, ob meine Atemlosigkeit vom Laufen oder der Angst kam, die mir jeden Schritt so tonnenschwer erscheinen ließ.
Dort stand ich nun. Ich brauchte nur zwei Blicke in sein Gesicht. Beim ersten musste ich mich vergewissern, dass tatsächlich er es war, der dort unten, bewegt von den ihn umgebenden Menschen, lag. Wie fremd einem doch ein vertrautes Gesicht erscheint, sobald die gewohnte Mimik gewichen ist. Doch. Es war nicht seine Frau, es war er.
Der zweite Blick bestätigte mir das, was mir so unbegreiflich erschien, nämlich, dass dieser Mensch tot war. Und bleiben würde. Alle Spannung, die das Leben hervorruft, in Körper und Geist, war verschwunden. Meine Augen glitten über seinen Körper, fast musste ich lächeln, denn er hatte wie immer farbig passende Socken zu seinem Hemd an, die Haare lagen geordnet am Kopf. Nur seine Augen. Seine Augen verdeutlichten mir, worum es hier wirklich ging. Sie waren ganz geöffnet, blickten starr ins Nichts, ich meine, nicht durch irgendetwas hindurch, nicht starr auf irgendetwas, sie blickten einfach ins Nichts. Ich stand dort, konnte nicht glauben, wollte nicht glauben, was dort geschah, und bis heute frage ich mich, welche Augenfarbe er eigentlich hatte und wie es verdammt noch mal sein konnte, dass ich so oft hineingeschaut hatte, ohne mich an die Farbe seiner Augen erinnern zu können. Blau? Grün? Nun hatten sie gar keine Farbe mehr, keinen Glanz, sie waren milchig-stumpf wie die Augen eines sehr altersschwachen Hundes.
Vielleicht ertrug ich es nicht. Vielleicht wollte ich aber auch einfach alles vorbereiten, vorbereiten für ihn, für seinen vermeintlichen Weg zurück ins Leben, den ich mir so sehr wünschte, der mir unverzichtbar erschien. Für ihn. Für mich.
Ich rannte auf die Station. Ich schrie, doch, ich schrie. Völlig außer Atem schrie ich dennoch. Wortfetzen: „Schlaui. Tot. Reanimation. Hilfe. Beatmungsgerät. Schnell. Bitte schnell.“
Wir versuchten, schnell zu handeln. Es war für mich überwältigend zu sehen, wie gefasst und ruhig alle arbeiteten. Alles lief wie immer, obwohl jedem klar war, dass das hier nicht annähernd wie immer war. Wir arbeiteten und wir kämpften. Wir wechselten uns gefasst fassungslos ab. Alle wollten ihr Bestes geben, gaben ihr Bestes. Der Schweiß lief mir den Rücken herunter, in die Unterwäsche, bis in die Socken. Die Luft erschien mir stickig, zu stickig, als dass ich gut hätte atmen können. Ich stand auf einem Stuhl vor dem Bett, in dem er lag, über ihn gebeugt. Drücken und hoffen. Und hoffen. Drücken. Und zwischendurch seine Stimme in meinem Ohr, so als würde er nicht unter meinen Händen liegen sondern direkt neben mir stehen: „Mädchen, was machste denn da? Das bringt doch nichts mehr. Wir hören auf.“ Ich musste an die Situationen mit ihm denken, in denen er in der Lage war, das Sterben eines Patienten als gegeben hinzunehmen. Es anzunehmen. Und diesen Menschen gehen zu lassen. Gehen lassen zu können.
Ich sah ihn an und dachte daran, dass einem solchen Menschen, ihm, ein ebensolches Sterben zustehen sollte. Das EKG zeigte weder Reaktion auf die vielen Medikamente, noch auf die Herzdruckmassage. Nichts. Plötzliche Albtraumbilder stiegen in mir auf. Wir holen ihn doch zurück. Sein Herz schlägt wieder. Er wird aber nie wieder wach. Hypoxischer Hirnschaden. Die letzten Monate, Jahre seines Lebens, zu einem Pflegefall verdammt. Und all diese Gedanken wieder in froschgrünes Licht getaucht.
Hilfe suchend blickte ich den diensthabenden Oberarzt an, den ich noch nie hatte leiden können. Uns verband eine Abneigung, wie sie tiefer nicht hätte sein können. Doch hier und jetzt wollte ich mich vor ihn stellen, ihn anflehen, wenn es sein musste. Bitte. Aufhören.
Nach einer Stunde geschah genau das. Wir hörten auf. Ein kurzer, stiller, atemloser Moment, dann Weinen. Ich schloss die Augen. Meine Schultern, mein ganzer Körper schmerzte. Ich atmete im Schutz meiner gesenkten Lider ein, wieder aus und sah mich um.
Jeder weinte. Kein Wort von irgendwem. Geballte Trauer die Nacht hindurch. Letzte Wünsche, letzte Berührungen, Tränen. Für einen Menschen, dessen Weggang bis heute eine Lücke hinterlässt. Für einen Menschen, bei dem ein jeder lächeln muss, wenn die Erinnerung an ihn die Gegenwart trifft.
Die restliche Zeit dieser Nacht schleppte sich mühsam durch die Gänge. Meine ganze Energie blieb mit jedem Schritt, den ich tat, am Boden kleben. Mir war alles egal. Der mir verhasste Oberarzt, die dummdreiste Kollegin, niemand berührte mich noch. Später, als alles still war, die Beatmungsgeräte surrten monoton über die Station, ging ich noch einmal in sein Zimmer.
Ich schloss die Tür, holte mir einen Stuhl, setzte mich neben sein Bett, berührte seine Hand. Ich werde nie verstehen, wie es sein kann, dass ein Körper so lang noch nach dem Weichen des Lebens warm sein kann.
Ich sah ihn mir an, er wirkte jung, viel zu jung. Eigentlich hatte ich ein angestrengtes, von der Tortour gemartertes Gesicht erwartet, aber alles war friedlich. Er war friedlich. Und beim genaueren Hinsehen erkannte ich ein zufrieden-glückliches Lächeln.
Noch heute beim Aufschreiben, fast zwei Jahre später, begleiten mich Tränen bei jedem Wort. Noch heute erwarte ich, wenn ich durch das Krankenhaus laufe, in jedem Flur seinen gemächlich schlurfenden Gang.
Noch heute fehlt er.
So soll das sein. So soll das bleiben.
Kermit bin ich seit dieser Nacht ein für alle Mal los.
Ich saß dort neben dem Bett und habe, nachdem ich ein paar Herzens- und Abschiedsworte gesprochen hatte, eine Ansage an das grüne Monster in meinem Kopf gemacht.
Vielleicht war es der richtige Zeitpunkt, vielleicht der richtige Ort, vielleicht aber auch die Entschlossenheit in meiner Stimme, gestärkt durch die vergangenen Stunden.
In der Stille des Augenblicks hatte ich, heimlich, meine Angst vor dem Sterben, die Angst vor dem Tod, verloren. Trotz aller Schwere, die diese Stunden mit sich brachten, ich fühlte mich leichter denn je.
Keine Angst mehr. Erst recht nicht vor grünen Stoffpuppen, die stets von rosa Schweinen durch die Luft gepfeffert werden. Und ich pfefferte ihn hinaus. Hinaus aus dem Raum, hinaus aus meinen Träumen, aus mir. Soll sich auch weiterhin Miss Piggy mit ihm abgeben.
Und wieder: „Abschied, ach ja!“
lahoiha - Sa, 13. Okt, 11:15
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