Halten
Ich war neunzehn als ich zum ersten Mal sah, wie ein Mensch starb.
Hinter mir lagen sechs Wochen des theoretischen Krankenpflegeunterrichts, ich hatte gelernt, wie man jemandem die Zähne putzt, den Körper wäscht, ihn bettet, füttert, Verbände macht, Akten führt, Befunde einheftet und so weiter und so fort. Man führte mich und die anderen durch die Klinik, auch in den Leichenkeller. Er war mir unheimlich. Nackte Wände, glänzende Metallflächen, neun Fächer für "Leichen", jeweils drei untereinander. Außen an den Fächern Namenskärtchen in farblosem Grün. Es war kühl dort, dumpfes Neonlicht flirrte über den gekachelten Boden und im Nebenraum konnte ich den Obduktionstisch erkennen, ebenfalls aus glänzendem Metall, um die Liegefläche herum eine Ablaufrinne. Es widerte mich an, mir vorzustellen, für welche Flüssigkeiten diese Rinne gedacht war. Ein modriger Gestank kroch mir in die Nase, ich kämpfte mit der in Wellen kommenden Übelkeit. Ich dachte darüber nach, dass ICH nicht dort enden möchte, nie. Ich dachte, ich möchte nicht in einem Kühlfach liegen mit Fremden, ich möchte nicht in einer Metallwanne vor mich hinfaulen, ich will nicht sterben, und wenn, dann so, dass nichts von mir übrig bleibt oder mich niemand findet.
Die sechs Wochen der Theorie vergingen wie im Flug und der erste Tag im Krankenhaus kam recht bald.
M55, unter den Angestellten des Hauses auch Sterbestation genannt, das aber sagte mir bis dahin niemand.
Ich machte Handlangerarbeiten, wie das in Ausbildungen wohl immer so ist, Kaffee kochen, putzen, aufräumen, Essen austeilen, abräumen.
Gegen Ende meines Dienstes sagte mir Thomas, ein kleiner, verkappter, stoischer Idiot, ich solle mal in Zimmer 552 der Dame etwas zu trinken geben.
Den Anblick werde ich nie vergessen und doch sollte es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich so etwas sah. In dem viel zu großen Zimmer stand ein einziges, viel zu großes Bett. In diesem viel zu großen Bett lag eine alte Frau, die so zierlich und gebrechlich dünn wirkte, dass sie kaum zu sehen war. Kaum eine Erhebung der Bettdecke. Der Nachttisch war bis auf einen Schnabelbecher des Krankenhauses leer, keine Blumen, keine Briefchen oder Karten, keine Pralinen. Keine Bilder von Freunden oder Familie. Nichts. Nur diese hässlich grüne Schnabeltasse.
"Hallo Frau M., möchten Sie etwas trinken?"
Sie antwortete nicht. Ihre Augen waren in die linke Zimmerecke gerichtet, sie sah friedlich, fast lächelnd aus, in ihrer ganz eigenen Welt.
Ich versuchte es noch einmal. Zwecklos. Keine Antwort.
Dann nahm ich mit der einen Hand den Trinkbecher, mit der anderen hob ich sanft ihren Kopf an. Sie spitzte die Lippen und nahm einen Schluck.
Plötzlich öffnete sie ihren Mund, weit, für mich sah es so aus, als schnappe sie nach Luft, ohne sie in ihre Lungen zu ziehen, sie erinnerte mich an einen Fisch auf dem Trockenen. Ihre Augen wurden matt. Ich bekam Angst.
Ich sprach sie an. Ruckelte unbeholfen ein wenig an ihr. Nichts. Ich rannte auf den Flur zum scheiß Thomas. Stammelte etwas von, da stimmt was nicht. Ich glaube, sie bekommt keine Luft mehr.
Er grinste nur, ging mit mir in das Zimmer, sah sie kurz an, sagte, sie ist präfinal (?), und ging teilnahmslos wieder hinaus. Die Tür stand offen, mein Mund auch. Ich konnte nicht glauben, was hier vor sich ging. Dass ein Mensch sterben muss, hier und jetzt, ok, an meinem ersten Tag im Krankenhaus, auch noch ok, aber bei offener Tür und ganz allein?
Ich blieb einige Meter vom Bett entfernt stehen und war fassungs- und hilflos. Auf dem Flur ging das geschäftige Treiben weiter, Patient XY zum Röntgen, Patient Z zum Sono, für mich stand die Zeit still.
Langsam ging ich rückwärts zur Tür, um sie zu schließen, ließ das Bett nicht eine Sekunde aus den Augen und näherte mich wieder. Die Bewegungen ihres Mundes wurden langsamer. Ich zog mir einen Stuhl heran, setze mich neben sie und saß einfach nur. Ich hätte gern ihre Hand gehalten, war aber unsicher und ängstlich.
Und ich weiß nicht, wie lang es dauerte, vermutlich ging es schnell, nur mein Kopf hatte auf Zeitlupe umgestellt, dann aber war es still.
Ein letztes Atmen entwich ihren dünnen, sich bläulich färbenden Lippen. Und ich war allein mit ihr.
Da saß ich nun, neben einem eben gestorbenen Menschen, niemand war bei mir außer dieser Leiche, ich hatte noch nie einen toten Menschen gesehen, und sagte mir, entweder ich gehe und schmeiße alles hin, oder ich beschäftige mich jetzt damit. Ich meine, ich war neunzehn. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich im bisheringen Leben oder Unterricht gelernt hatte, wie der Tod aussieht, wie sich das hier anfühlen und ich damit umgehen kann, ohne durchzudrehen. Gehen oder bleiben, dachte ich, gehen oder bleiben?
Und ich entschied mich zu bleiben.
Ich war noch eine halbe Stunde in diesem Zimmer. Niemand vermisste mich. Niemand sah nach mir. Niemand nach ihr. Es gab nur noch sie und mich. Ich berührte ihre ledrige Haut, schloß ihre Lider über ihren matten Augen und letztlich. Wünschte ich ihr Alles Gute. Auf ihrer letzten Reise.
An diesem Tag verlor die Fratze des Todes ihre Maske.
Und ich meine Angst. Vor dem Sterben. Vor den leiblichen, leblosen Hüllen, die zurückbleiben. Vor dem Wort präfinal, vor dem letzten Geleit, das sehr oft nur ich geben konnte, weil einfach niemand sonst da war.
Angst. Allein zu sterben aber. Die habe ich noch heute. Im letzten AugenBlick meines Lebens niemanden zu haben, der mir liebend meine Hand hält.


Hinter mir lagen sechs Wochen des theoretischen Krankenpflegeunterrichts, ich hatte gelernt, wie man jemandem die Zähne putzt, den Körper wäscht, ihn bettet, füttert, Verbände macht, Akten führt, Befunde einheftet und so weiter und so fort. Man führte mich und die anderen durch die Klinik, auch in den Leichenkeller. Er war mir unheimlich. Nackte Wände, glänzende Metallflächen, neun Fächer für "Leichen", jeweils drei untereinander. Außen an den Fächern Namenskärtchen in farblosem Grün. Es war kühl dort, dumpfes Neonlicht flirrte über den gekachelten Boden und im Nebenraum konnte ich den Obduktionstisch erkennen, ebenfalls aus glänzendem Metall, um die Liegefläche herum eine Ablaufrinne. Es widerte mich an, mir vorzustellen, für welche Flüssigkeiten diese Rinne gedacht war. Ein modriger Gestank kroch mir in die Nase, ich kämpfte mit der in Wellen kommenden Übelkeit. Ich dachte darüber nach, dass ICH nicht dort enden möchte, nie. Ich dachte, ich möchte nicht in einem Kühlfach liegen mit Fremden, ich möchte nicht in einer Metallwanne vor mich hinfaulen, ich will nicht sterben, und wenn, dann so, dass nichts von mir übrig bleibt oder mich niemand findet.
Die sechs Wochen der Theorie vergingen wie im Flug und der erste Tag im Krankenhaus kam recht bald.
M55, unter den Angestellten des Hauses auch Sterbestation genannt, das aber sagte mir bis dahin niemand.
Ich machte Handlangerarbeiten, wie das in Ausbildungen wohl immer so ist, Kaffee kochen, putzen, aufräumen, Essen austeilen, abräumen.
Gegen Ende meines Dienstes sagte mir Thomas, ein kleiner, verkappter, stoischer Idiot, ich solle mal in Zimmer 552 der Dame etwas zu trinken geben.
Den Anblick werde ich nie vergessen und doch sollte es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich so etwas sah. In dem viel zu großen Zimmer stand ein einziges, viel zu großes Bett. In diesem viel zu großen Bett lag eine alte Frau, die so zierlich und gebrechlich dünn wirkte, dass sie kaum zu sehen war. Kaum eine Erhebung der Bettdecke. Der Nachttisch war bis auf einen Schnabelbecher des Krankenhauses leer, keine Blumen, keine Briefchen oder Karten, keine Pralinen. Keine Bilder von Freunden oder Familie. Nichts. Nur diese hässlich grüne Schnabeltasse.
"Hallo Frau M., möchten Sie etwas trinken?"
Sie antwortete nicht. Ihre Augen waren in die linke Zimmerecke gerichtet, sie sah friedlich, fast lächelnd aus, in ihrer ganz eigenen Welt.
Ich versuchte es noch einmal. Zwecklos. Keine Antwort.
Dann nahm ich mit der einen Hand den Trinkbecher, mit der anderen hob ich sanft ihren Kopf an. Sie spitzte die Lippen und nahm einen Schluck.
Plötzlich öffnete sie ihren Mund, weit, für mich sah es so aus, als schnappe sie nach Luft, ohne sie in ihre Lungen zu ziehen, sie erinnerte mich an einen Fisch auf dem Trockenen. Ihre Augen wurden matt. Ich bekam Angst.
Ich sprach sie an. Ruckelte unbeholfen ein wenig an ihr. Nichts. Ich rannte auf den Flur zum scheiß Thomas. Stammelte etwas von, da stimmt was nicht. Ich glaube, sie bekommt keine Luft mehr.
Er grinste nur, ging mit mir in das Zimmer, sah sie kurz an, sagte, sie ist präfinal (?), und ging teilnahmslos wieder hinaus. Die Tür stand offen, mein Mund auch. Ich konnte nicht glauben, was hier vor sich ging. Dass ein Mensch sterben muss, hier und jetzt, ok, an meinem ersten Tag im Krankenhaus, auch noch ok, aber bei offener Tür und ganz allein?
Ich blieb einige Meter vom Bett entfernt stehen und war fassungs- und hilflos. Auf dem Flur ging das geschäftige Treiben weiter, Patient XY zum Röntgen, Patient Z zum Sono, für mich stand die Zeit still.
Langsam ging ich rückwärts zur Tür, um sie zu schließen, ließ das Bett nicht eine Sekunde aus den Augen und näherte mich wieder. Die Bewegungen ihres Mundes wurden langsamer. Ich zog mir einen Stuhl heran, setze mich neben sie und saß einfach nur. Ich hätte gern ihre Hand gehalten, war aber unsicher und ängstlich.
Und ich weiß nicht, wie lang es dauerte, vermutlich ging es schnell, nur mein Kopf hatte auf Zeitlupe umgestellt, dann aber war es still.
Ein letztes Atmen entwich ihren dünnen, sich bläulich färbenden Lippen. Und ich war allein mit ihr.
Da saß ich nun, neben einem eben gestorbenen Menschen, niemand war bei mir außer dieser Leiche, ich hatte noch nie einen toten Menschen gesehen, und sagte mir, entweder ich gehe und schmeiße alles hin, oder ich beschäftige mich jetzt damit. Ich meine, ich war neunzehn. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich im bisheringen Leben oder Unterricht gelernt hatte, wie der Tod aussieht, wie sich das hier anfühlen und ich damit umgehen kann, ohne durchzudrehen. Gehen oder bleiben, dachte ich, gehen oder bleiben?
Und ich entschied mich zu bleiben.
Ich war noch eine halbe Stunde in diesem Zimmer. Niemand vermisste mich. Niemand sah nach mir. Niemand nach ihr. Es gab nur noch sie und mich. Ich berührte ihre ledrige Haut, schloß ihre Lider über ihren matten Augen und letztlich. Wünschte ich ihr Alles Gute. Auf ihrer letzten Reise.
An diesem Tag verlor die Fratze des Todes ihre Maske.
Und ich meine Angst. Vor dem Sterben. Vor den leiblichen, leblosen Hüllen, die zurückbleiben. Vor dem Wort präfinal, vor dem letzten Geleit, das sehr oft nur ich geben konnte, weil einfach niemand sonst da war.
Angst. Allein zu sterben aber. Die habe ich noch heute. Im letzten AugenBlick meines Lebens niemanden zu haben, der mir liebend meine Hand hält.


lahoiha - Do, 30. Aug, 19:18
307 mal durch die Augen ins...
Festhalten
Heute ist sie wieder erstaunlich fit, auch wenn ihr Herz irgendwie schon seit vielen Jahren präfinal ist.
Allein ans Ende seines Lebens zu gelangen, ja, das ist ein schlimmer Gedanke.
Keine Tränen, ja, in Ordnung.