Mittwoch, 27. August 2008

Wieder-Sehen

Ich treffe sie heute zum vermeintlich ersten Mal. Sie sitzt auf ihrem Bett, sieht in den Garten hinunter und knabbert an ihren Fingernägeln. Ab und an stützt sie sich auf das Fensterbrett, um besser hinaussehen zu können und sich dann mit einem lauten Plumps wieder zurückfallen zu lassen. Sie muss mich gehört haben, weil sie sich plötzlich genau in die Richtung dreht, in der ich stehe.
Sie ist süß, denke ich ganz leise bei mir. Sie hat eine kleine Stupsnase, mandelförmig dunkle Augen, die mich lebendig anblicken und braune, schulterlange Haare, die zu zwei Zöpfen gebunden sind, der Pony fällt ihr lässig ins Gesicht. Ihre Haut ist babyweich und fast golden.
Schweigend sieht sie zu mir her, ohne erkennbare Angst oder Scheu, aber auch ohne Freude.
Ich überwinde mich und finde einen Anfang:

"Na...?!? Bist Du sehr überrascht, dass ich da bin?"
"Hmm, ja."

Mit dem rechten Zeigefinger fährt sie den Blumenmustern auf ihrer Schlafanzuhose nach.

"Freust Du Dich denn auch ein bisschen?"

Nachdenkliches Schweigen.

"Ich freue mich, dass ich hier bin. Sehr sogar. Ich war viel zu lange weg."
"Wo warst Du denn?"
"Ich war... unterwegs. Ich bin im Urlaub gewesen, und dann habe ich noch viel gearbeitet und viel... nachgedacht."

Das muss sich für ein kleines sechsfähriges Kind bescheuert anhören, denke ich noch.

"Warst Du im Meer schwimmen?"
"Ja, auch. In vielen Meeren. Und Fische hab ich auch gesehen."
"Große Fische?"
"Es waren auch ein paar echt große dabei, ja. Und ganz viele bunte auch."

Ihre Augen glänzen jetzt, ich kann regelrecht die Fische sehen, die in ihren Gedanken vorbeischwimmen und ihr mit der Schwanzflosse zuwinken.
Dann wird sie plötzlich ernst.

"Hast Du mich vergessen?"

Ihre großen offenen Augen ruhen auf mir und selbst wenn ich wollte, ich könnte keine Lüge herausbekommen.

"Nein. Ich habe Dich nie vergessen. Wirklich nie."

Ich würde gern ihre kleine Hand nehmen, aber ihre Körperhaltung zeigt Misstrauen.

"Magst Du mir erzählen, wie es Dir geht?"

Schweigen. Ich versuche es anders.

"Hast Du heute etwas Schönes gemacht? Warst Du draußen?"
"Ich wollte in ein anders Land gehen. Wo ich noch nie war. Und dann habe ich einen Igel gefunden und bin wieder nach Hause gegangen."

Ja- ich erinnere mich daran. Damals wollte ich die Welt entdecken, weil mir meine eigene zu beängstigend, zu lieblos, zu dunkel vorkam.

"Toll! Und magst Du mir erzählen, wie es Dir sonst so geht? Ich höre Dir sooooo lange zu, wie Du möchtest. Ganz fest versprochen."

Schweigen, dann zögerliches Kopfnicken, flüsternd beginnt sie zu erzählen.

"Sie streiten jede Nacht."
"Mama und Papa?"
"Ja. Sie streiten jede Nacht. Sie beschimpfen sich und Mama schreit. Papa trinkt viel Bier. Oft geht etwas kaputt, letzte Nacht die Küchentür."
"Kannst Du denn überhaupt noch schlafen?"
"Nicht mehr so richtig. Ich sitze oft an der Treppe und passe auf, dass sie sich nicht wehtun."

Sie sitzt zwischen ihren Unterschenkeln und wippt leise in einem stummen Takt.

"Hast Du Angst?"
Sie sieht mich lange an. Dann nickt sie.
"Wovor hast Du Angst, Engel?"
"Ich habe Angst, dass sie sich wehtun und weggehen. Sie schreien so laut. Mein Bruder weint oft. Ich träume von Kermit."
"Dem Frosch? Aus der Muppetshow?"
"Genau. Kermit ist der Freund von Miss Piggy..." Aus dem Nichts giggelt sie kaum hörbar.
"Der, der immer durch die Luft fliegt. In meinem Traum ist er böse."

Ihre Augen werden feucht, ich streichele ihr über den Rücken, sie lässt es zu und hört auf zu wippen.

"Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist ja nur ein Traum. Und Mama und Papa, sie sind schon ganz allein groß und müssen selbst auf sich aufpassen."
"Ich glaube, das können sie nicht."
"Doch, das können sie, ganz bestimmt. Du musst wirklich nicht auf sie aufpassen, da kannst Du mir glauben, ich weiß es ganz sicher. Du musst nur auf Dich selbst aufpassen und ein kleines bisschen auch auf Deinen Bruder. Weil er ja noch so klein ist."
"Er kommt oft zu mir ins Bett, nachts. Weil er auch nicht schlafen kann. Er klopft an meiner Tür und dann schlafen wir zusammen in meinem Zimmer."
"Und ist das schön? Könnt ihr dann besser schlafen?"
Sie nickt.
"Das ist doch schön. Dann seid ihr wenigstens nicht allein."
"Duhu?"
"Na?"
"Kannst Du noch ein bisschen bei mir bleiben?"

Gähnend reibt sie sich ihre Augen und fixiert mich dann.

"Ja, das mache ich auf jeden Fall. Bist Du sehr müde? Ich könnte Dir eine Geschichte zum Einschlafen erzählen..."
"Au ja! Was für eine?"
"Du magst doch die Geschichte von Mrs. Brisby, oder?!"

Was für eine Frage, ich liebe Mrs. Brisby und das Geheimnis von Nimh.

"JA!"
"Soll ich Dir die erzählen?"

Sie nickt und lächelt.

Also fange ich zu erzählen an. Wir liegen zusammen, Arm in Arm, im Bett und gucken auf die Bäume, die sich sanft im Wind wiegen. Wir liegen da beieinander, so nah, als wäre das schon immer so gewesen. So, als wäre alles gut, und plötzlich wissen wir es beide, alles ist gut, wir müssen nur noch ein bisschen warten. Sie hört Mrs. Brisbys´ Geschichte zu, fragt immer wieder dazwischen, knibbelt an ihren Zehen und Fingernägeln und irgendwann dann merke ich, wie ihr kleiner Kopf an meiner Schulter langsam schwerer und ihr Atem langsam und gleichmäßiger wird.

Ich gehe ganz nah an ihr Ohr und sage:

"Ich muss Dir noch was sagen... wenn Du nachher aufwachst bin ich wahrscheinlich nicht mehr da. Dann musst Du aber nicht traurig sein, weil ich Dir hiermit hoch und heilig verspreche, dass ich immer auf Dich aufpasse und sofort komme, wenn Du mich rufst. Und wenn Du magst kannst Du mich auch einfach besuchen kommen, ok?"

Sie nickt.

"Und du musst auch keine Angst mehr haben. Du bist nicht allein bist. Ich bin immer bei Dir. Versuch ein bisschen zu schlafen und nimm Deinen Bruder ab und zu in den Arm, ja?"

Sie nickt.

Langsam stehe ich auf, lege sie richtig in ihr Bettchen und den so heißgeliebten Hasen in ihren Arm, decke sie zu und gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn. Sie seufzt.
Unten höre ich schon wieder laute Schreie.
Ich lege ihr meine Hände auf die Ohren, nehme sie wieder weg und flüstere:
"Schlaf schön Du süße Maus. Du musst Dich nicht sorgen, Papa und Mama passen allein auf sich auf. Du schläfst jetzt, ok?"

Sie nickt wieder.
Ich erkenne ein kleines Schmunzeln um ihre Mundwinkel.

Es fällt mir nicht leicht, zu gehen, aber mein Jetzt-Leben wartet schon auf mich. Ich sehe noch ein paar Mal zurück auf den kleinen schlafenden Körper, der ab und an zuckt und ansonsten ganz ruhig daliegt.
Ich bin glücklich.
So kann ich gehen.
Und ich weiß, ich werde wiederkommen.
Und nie wirklich weggewesen sein.
2191 mal durch die Augen ins...

Lahoiha

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